Goldene Ente 2003

Laudatio auf Ottmar Schreiner

von Dr. Heiner Geißler

(Hinweis zu den aktuellen Bezügen: wenige Stunden vor der Entenfeier hatte Ottmar Schreiner bei der abschließenden Abstimmung einer Reihe von „Reform“-Gesetzen im Bundestag die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose abgelehnt)

Lieber Ottmar Schreiner, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich habe sofort zugesagt, als ich gefragt wurde ob ich die Laudatio halten will. Das war sozusagen die erste positive Reaktion, und ich war überzeugt, dass ich da etwas Richtiges tue. Ich bin dann über die Goldene Ente gestolpert und habe gesagt: wollen die den Ottmar Schreiner irgendwie hereinlegen oder auf den Arm nehmen? Denn: was heißt Ente? Ente ist Ente, sagen sie in dem Büchlein, wo Sie, Herr Kuderna, die Geschichte dieser Entenkonferenz beschreiben, aber Zeitungsente ist auch Zeitungsente. Da es sich hier um eine Landespressekonferenz handelt, kann ja die Ente nur zeitungsbezogen gemeint sein. Irgendwie ist es eine verunglückte Metapher, nehme ich einmal an. Ich will es aber gerne mal so zur Kenntnis nehmen.

Vielleicht wird die Sache dadurch besser, dass die Ente vergoldet wird, aber sie wissen vielleicht, dass ihre Kollegen und Kolleginnen in Hamburg, also die Landespressekonferenz von Hamburg, auch jedes Jahr einen Preis verleiht, nämlich den "Grünen Gartenzwerg". Diesen "Grünen Gartenzwerg" bekommt der Politiker der sich in den Metaphern am meisten vergriffen hat. Vor einiger Zeit hat der Parteikollege von Ottmar Schreiner, (Paul) Nevermann, er ist (Hamburger) Bürgermeister gewesen und Bausenator, einmal in einer Parlamentsdebatte gesagt an die Adresse der CDU: "Sie wollen mir nur ein faules Ei an den Rockschoß heften, um dadurch Honig zu saugen für ihre Propaganda." Nach der Wahlniederlage der CDU 1998, an der Ottmar Schreiner zusammen mit seinem Blutsbruder Oskar Lafontaine nicht ganz unbeteiligt war, hat ein Reporter, Redakteur eines Privatfernsehens, tröstend in Richtung CDU gesagt: "Der Zahn der Zeit trocknet manche Träne." Beim Kosovo-Einsatz hat einer von den Grünen erklärt: "Der Kosovo-Einsatz der Bundeswehr ist ein zweischneidiges Schwert, bei dem der Schuss hinten raus geht." Also, jetzt Schluss mit Metaphern, die schief laufen.

Ottmar Schreiner ist kein „zweischneidiges Schwert“. Er ist ein einschneidiges und ein scharfes Schwert. Er verkörpert das, was man eigentlich als das eigentliche Charakteristikum der parlamentarischen Demokratie bezeichnen kann, nämlich

zwei Eigenschaften. Erstens verleiht die parlamentarische Demokratie die Macht auf Zeit. Die Mandate sind begrenzt. Und zweitens werden die Auseinandersetzungen nicht mehr wie früher geführt mit der Pistole und dem Faustkeil, sondern - so würde man es sich wünschen - mit den Waffen des Geistes, also mit der Sprache. Das Wort ist das Entscheidende. Von Ottmar Schreiner kann man mit Sicherheit sagen, dass seine Rede sich auszeichnet durch die Klarheit der Sprache, durch Sachkunde, was auch nicht gerade schädlich ist, und allerdings auch durch ein erbarmungsloses Tempo und eine sich immer mehr steigernde Lautstärke, dann wieder abgemildert im Deutschen Bundestag durch die Mikrofone, die man etwas beeinflussen kann. Er beweist und hat in seiner parlamentarischen Arbeit bewiesen, dass Worte Waffen sind. Er ist ja Leutnant der Fallschirmjäger, wie ich gelesen habe. Hauptmann, Major, Oberst? Abgeordnete werden interimsmäßig immer wieder befördert. Das habe ich auch gehört. Ganz sicher ist er jemand, der mit dem Wort umgehen kann.

Nun ist das Wort, die Sprache, wirklich etwas vom Entscheidenden in der parlamentarischen Auseinandersetzung, und Worte können auch Geschosse sein. Worte können verletzen, sogar töten - in der Politik wie in der Liebe. Worte können auch versöhnen, aber sie sind auch ein Angriffsmittel in der politischen Auseinandersetzung. Sicher ist Ottmar Schreiner auch ein versöhnlicher Mensch, vor allem privat. Aber, ich will mal sagen, das war in der parlamentarischen Auseinandersetzung nicht seine Hauptstärke. Er wollte schon mit den Worten kämpfen und natürlich auch den politischen Gegner treffen, wenn nicht sogar verletzen. Manche Worte, jetzt nicht gerade bei ihm, gleichen ja Knallbonbons, vor allem bei bestimmten Parteien, die etwas kleiner sind. Aber manche wirken auch wie Handgranaten und manche schlagen auch ein wie eine Bombe. Ich weiß wovon ich rede. Ich war immer ein Anhänger einer offensiven Begrifflichkeit, natürlich immer im Dienste der gerechten Sache. Und so war das bei Ottmar Schreiner Zeit seines parlamentarischen Lebens auch.

Man wird ihn sicher nicht mit Herbert Wehner vergleichen dürfen. Wehner war ja bekanntlich die größte parlamentarische Haubitze aller Zeiten. Was seine Zwischenrufe anbelangt, war sein Erfindungsreichtum vor allem in Form von Beleidigungen unerschöpflich. Ich habe mir mal aufgeschrieben, was der alles gesagt hat: "Berufsmäßiger Verleumder, Ehrabschneider, einstudierter Pharisäer, Heuchler, Strolch, Flegel, Sauhaufen, nihilistischer Pöbelhaufen, Dreckschleuder". Er war vor allem unerreicht in der Verballhornung von Namen der politischen Gegner. Mein Freund Wohlrabe wurde von ihm ständig nur mit „Herr Übelkrähe“ angeredet. Und der Abgeordnete Todenhöfer changierte zum Abgeordneten "Hodentöter“. Und er scheute sich nicht mal einen anzusprechen als „weiß-blaues Arschloch“. Er hat aber nicht den Franz Josef Strauß gemeint, sondern seinen Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Die CDU/CSU musste dieses Jahrzehnte lang ertragen. Diese Sprache, das wird man im nachhinein sagen können, das waren - um doch mal beim Militärischen zu bleiben - mehr oder weniger Rohrkrepierer.

So etwas hat sich Ottmar Schreiner nicht geleistet. Das hat er nicht gemacht, er hat andere Leute nicht beleidigt, zumindest nicht in der Regel. Also, im Vergleich nicht eine Kanone. Aber es gab mal früher einen Jesuitenpater Leppich, die ganz Alten unter Ihnen werden sich vielleicht noch an ihn erinnern. Pater Leppich wurde bezeichnet als „Maschinengewehr Gottes“, Ottmar Schreiner war so etwas wie das Maschinengewehr der SPD.

Dass er ein hervorragender Rhetoriker ist, das habe ich neulich wieder festgestellt. Ich habe mir ein Protokoll schicken lassen, ich glaube es war vom letzten Bundesparteitag. Da fing es folgendermaßen an: Ottmar Schreiner hat das Wort erhalten von der Vorsitzenden Ute Vogt. Er hat angefangen mit "Liebe Genossinnen und Genossen“ und am Anfang einen gewissen Kotau gemacht, indem er noch einmal eine Selbstverständlichkeit wiederholt hat, dass niemand für eine andere Koalition und niemand für einen anderen Bundeskanzler eintrete. Das war eine unnötige Einleitung, will ich mal sagen. Er bekam auch zu Recht nur „vereinzelt Beifall“. Dann ging es so weiter, immer „vereinzelt Beifall“, „vereinzelt Beifall“. Es hat überhaupt nicht aufgehört. Dann noch mal „vereinzelt Beifall“. Dann kam schon „Beifall“ und, je länger er geredet hat, „Beifall“, „Beifall“. Und am Ende „lebhafter Beifall“, Zurufe „Zugabe“. Was beweist, dass er tatsächlich gut reden kann.

Er hat in der Auseinandersetzung mit der CDU immer eine scharfe Klinge geführt. Er hat auch zugespitzt. Ottmar Schreiner ist ein großer Polemiker. Das meine ich aber im positiven Sinn. Wir haben zu wenig Polemiker. Hugh Gaitskell, der große Labour-Abgeordnete, langjähriger Vorsitzender der Labourpartei in England, hat einmal gesagt: Man muss zuspitzen in der Politik, sonst wird man nicht gehört. Das ist allerdings ein sehr negatives Urteil über Sie, über Presseleute, über die Medienverantwortlichen. Da dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass sie nur bereit sind, etwas zu melden oder zu schreiben, das nicht wahr ist, das zugespitzt ist, das nur halb wahr ist. Auf jeden Fall eben Krawall macht und eben auffällt. Das ist mir selbst auch schon passiert.

Ottmar Schreiner hat es manchmal übertrieben. Er hat nicht nur zugespitzt, sondern was er gesagt hat, das war manchmal ein starkes Stück, um nicht noch was anderes zu sagen. Da fällt mir insbesondere unser alter Streit über die Rentenreform und den Demografiefaktor ein, den er unverschämter Weise im Bundeswahlkampf 1998 als eine Rentenkürzung bezeichnet hat. Was natürlich der Wahrheit zuwider war. Das hinten und vorne nicht gestimmt hat. Und wofür sich sein Bundeskanzler auch vor sechs Wochen ausdrücklich im Parlament entschuldigt hat, dass die SPD so etwas gemacht hat, aber es hat gewirkt. Diese Kampagne, die von ihm und von anderen ausgelöst war, hat mit dazu beigetragen, dass die CDU '98 die Wahl verloren hat. Neben der Untat eines anderen Saarländers, nämlich des damaligen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten des Saarlandes Oskar Lafontaine, der den Unsinn eingeführt hat, dass die Mehrheit im Bundesrat parteipolitisch dazu benutzt werden sollte, um den politischen Gegner nieder zu machen. Und das hat er dann bei der Steuerreform auch gemacht. Dies ist ihm geglückt, gar keine Frage. Die Wahl 1998 hat nicht Gerhard Schröder gewonnen, sondern Oskar Lafontaine. Das habe ich ihm bei der Vereidigung des Bundeskanzlers, was er als frisch ernannter Bundesfinanzminister wahrscheinlich insgeheim nur mit großem Ingrimm miterlebt hat, dann auch gesagt.

Ottmar Schreiner ist oder war die Speerspitze der Sozialdemokratischen Partei. Ich zögere zu sagen, er ist noch die Speerspitze. Er hat sich viel eher entwickelt zum Avantgardisten, so will ich es einmal nennen, einer neuen Philosophie, die aber gleichzeitig eine alte Philosophie ist. Wenn man von der richtigen Erkenntnis ausgeht, dass man Humanität und Ökonomie miteinander verbinden kann und auch verbinden muss, und dass jede ökonomische Philosophie, die in Kauf nimmt, dass Menschen, Zehntausende, Hunderttausende von Menschen unter die Räder kommen, dass eine solche Philosophie eben auch ökonomisch falsch ist. Man könnte sagen: er ist heute wieder der Avantgardist einer Philosophie, die von den Sozialdemokraten lange Jahre bekämpft worden ist, nämlich der sozialen Marktwirtschaft. Von der ich auch überzeugt bin, dass sie eine Renaissance erleben muss und die einzig vernünftige Alternative darstellt zu einer sozialistischen Planwirtschaft auf der einen Seite und zum Kapitalismus auf der anderen Seite. Und er macht es ja nicht ohne Erfolg. Warum hat er mit dem, was er vorträgt, doch immerhin den Erfolg, dass Parteitagsbeschlüsse nachher humaner formuliert und auch so abgestimmt werden.

Ich habe ein Buch geschrieben. "Was würde Jesus heute sagen?" hat sich zu meiner Überraschung seit 13 Wochen auf den Bestsellerlisten gehalten. Ich war wirklich überrascht. Es ist offenbar etwas angesprochen worden, was die Menschen heute suchen. Ein bisschen Orientierung in einer Zeit der Unsicherheit, vor allem auch der sozialen Unsicherheit. Ich habe in dem Buch über die politische Dimension des Evangeliums geschrieben und bin auch zu dem Ergebnis gekommen, dass man von diesem jungen Mann, der für seine Ideale gestorben, man kann auch sagen umgebracht worden ist, auch als Volksvertreter einiges lernen kann. Er stand an der Seite der kleinen Leute gegen die Mächtigen, auch an der Seite der Ausgestoßenen, der Außenseiter, der Verfemten, der Apostaten, er hat ihnen geholfen. Und das hat er dadurch erreicht, dass er selbstständig war, auch selbstbewusst, mutig, und dadurch, dass er vor allem etwas erreicht hat, was die Menschen heute so suchen und vor allem junge Menschen immer weniger finden: nämlich die Identität von Denken, Reden und Handeln. Das ist die Definition von Glaubwürdigkeit. Denken, reden, handeln in Übereinstimmung zu bringen. Nur muss man heute dafür nicht mehr ans Kreuz genagelt werden oder sterben, aber ohne Auseinandersetzung, ohne Wunden geht dies heute auch nicht ab.

Solche Leute, wie ich sie gerade geschildert habe, selbstbewusst, eigenständig, mutig, grundsatztreu, glaubwürdig, werden heute „Abweichler“ genannt. Nein-Sager, Blockierer, kriegen ein Etikett angeklebt. Es sind Stichworte, die von den Mächtigen, um noch einmal mit den Begriffen des Evangeliums zu operieren, also von der Bundesregierung, von den Fraktionsvorständen, von den Parteispitzen ausgegeben werden. Stichworte. Und die Presse: Sie sind die willigen Transporteure dieser Mobbing-Begriffe. Ich habe das heute morgen wieder im Frühstücksfernsehen gesehen. Prüfen Sie sich einmal selber, ob Sie sich daran nicht beteiligen. Olaf Scholz wurde einmal gefragt, was machen sie heute mittag mit ihren Abweichlern. Das ist die ständige Frage der Journalisten. Das heißt, es wird der Begriff übernommen, der solche Menschen eben denunzieren soll, charakterisieren soll. Aber das wird gemacht ohne darüber nachzudenken, wer denn eigentlich ein Abweichler ist. Genau so, wie man sich relativ wenig Gedanken darüber macht, wer eigentlich ein Terrorist ist. Definieren das unsere Innenminister, wer ein Terrorist ist, oder die globale Fraktion der Innenminister auf dieser Erde? Für die Regierung in Peking ist der Dalai Lama ein Terrorist. Für viele Tibeter ist ein Freiheitskämpfer. (Abdullah) Öcalan ist für die türkische Regierung ein Terrorist und sitzt deshalb im Zuchthaus. Für die meisten Kurden ist Öcalan ein Freiheitskämpfer. Also: wer ist Freiheitskämpfer? Die Frage will ich jetzt gar nicht beantworten. Ich vermute mal derjenige, der sich für Menschenrechte einsetzt, sich für die Menschenwürde einsetzt in der Auseinandersetzung - damit haben wir schon ein wichtiges Kriterium.

Aber wer ist denn ein Abweichler? Ist der eigentlich ein Abweichler, der sich an die Grundsatzbeschlüsse seiner Partei hält, der seinen Auftrag als Abgeordneter seines Volkes ernst nimmt? Der ohne den Verstand aufzugeben, dennoch Grundsätze hat, begründete Grundsätze? Oder ist nicht vielleicht derjenige ein Abweichler, der nach der Wahl das Gegenteil von dem tut, was er vor der Wahl gesagt hat? Das ist eine interessante Frage, die aber offenbar in der kritischen Öffentlichkeit, auch im deutschen Journalismus, eine Frage ist, die nur ungern gestellt oder auch beantwortet wird. Man übernimmt lieber die Begriffe derjenigen, die an der Macht sind, die das Sagen haben, und verstärkt dadurch den Verfall der kommunikativen Sitten.

Was wir im Moment erleben, ist ein ständiger schleichender Verfall des Parlamentarismus. Der Abgeordnete, nach Artikel 38 des Grundgesetzes Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, nur seinem Gewissen unterworfen, diesen Abgeordneten gibt es so gut wie nicht mehr. Es gibt noch ein paar. Ottmar Schreiner gehört sicher zu ihnen. Es ist schwierig geworden. Ich war zwölf Jahre Generalsekretär. Ich habe auch meine Erfahrungen gemacht. Und später in den 90er Jahren war die CDU mehr ein geistiges Sultanat, wo par ordre du mufti, aber eigentlich überhaupt nicht mehr, wie es halt im Sultanat üblich ist, so richtig diskutiert wurde. Aber was jetzt in beiden großen Volksparteien passiert, das ist in der Tat was wirklich Neues.

Da wird eine Kommission eingesetzt, geleitet von einem Vorstandsmitglied eines großen Automobilkonzerns. Die machen nun Vorschläge. Und kaum sind die Vorschläge auf dem Tisch, erklärt derjenige, der die Kommission eingesetzt hat, die werden sofort umgesetzt eins zu eins. Basta. Die andere Volkspartei setzt auch eine Kommission ein, von einem bekannten Sozialexperten, nämlich dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, angeführt, und die machen auch Vorschläge. Und die Parteivorsitzende erklärt wiederum am anderen Tag: diese Vorschläge werden umgesetzt eins zu eins. Basta. Dann wird eine Prozession von Regionalkonferenzen in Gang gesetzt. Und da wird diese Eins zu Eins-Lösung vorgetragen. Und dann kommt ein Bundesparteitag. Was sollen eigentlich die armen Leute machen? Die Mitglieder einer solchen Konferenz und die Delegierten auf einem Parteitag, wenn sie Bedenken haben - und man kann nur Bedenken haben gegen das, was da vorgeschlagen worden ist, von der Kopfpauschale bis zu Privatisierung der Pflegeversicherung, was mit Sicherheit auch ökonomisch schief laufen wird. Aber was sollen die machen? Entweder sie geben ihren Bedenken statt und fangen an zu diskutieren und versuchen die Sache abzuändern. Dann desavouieren sie ihre Vorsitzende. Oder sie desavouieren ihre Vorsitzende nicht und beschließen was Falsches. Es ist klar, wie ein Parteitag sich entscheidet. Er wird niemals die Vorsitzende desavouieren und infolge dessen etwas Falsches beschließen. Das ist der Vorgang, mit dem wir uns konfrontiert sehen, und das betrifft natürlich auch das, was Ottmar Schreiner in seiner eigenen Partei in letzter Zeit erlebt hat. Indem er nämlich auf die unbestreitbaren Defizite und Fehler bestimmter Regelungen aufmerksam gemacht hat, denen ja dann auch stattgegeben wurde. Aber vorher war er, wie Franz Müntefering einmal gesagt hat, ein „Feigling“. Ein „kleinkarierter Feigling“.

Und alle haben es irgendwie dann doch akzeptiert. Da gab es ein bisschen Proteste. Es erinnert einen an Ossietzky, der mal gesagt hat: In Deutschland gilt derjenige als viel gefährlicher, der auf den Schmutz hinweist, als derjenige, der den Schmutz macht. Das ist deutsche Presse- und Kommunikationspolitik. Und alles läuft dann hinter der falschen Sache her. Die Fahne ist entscheidend. Wenn die Fahne fliegt, sagt ein ukrainisches Sprichwort, ist der Verstand in der Trompete. Und das sind die Gesetze der Massenpsychologie, die heute in den großen Volksparteien sich durchsetzen. Dabei hat Ottmar Schreiner ganz zweifellos in vielen Fragen, nicht in allen, in der Sache Recht.

Die Notwendigkeit für Reformen ist ja nicht zu bestreiten. Hier kann man aber die Frage stellen: was ist eigentlich eine Reform? Das hatten wir schon einmal in den 70er Jahren. Einer der größten Reformhuber war der damalige Kanzleramtsminister Professor Ehmke. Da gab es die 240. Reform, die die damalige sozial-liberale Koalition erlassen hatte. Das war ein Gesetz zur Bekämpfung der Dasselfliege.

Das wurde aber allen als Reform verkauft. Nun reden wir ununterbrochen über die Notwendigkeit von Reformen. Wenn Sie zu Ihrer Sekretärin sagen, ich muss mal ihr Gehalt reformieren, wird sie, wenn sie nichts gelesen hat in der Zeitung, wahrscheinlich freudig denken, jetzt gibt’s was. Aber in Wirklichkeit heißt es nichts anderes als: wir werden Ihr Gehalt kürzen.

Was heute unter Reform läuft und was auch beschlossen worden ist, ist ja keine echte Reform. Es wird im Grunde genommen nichts verändern, weil man an den Kern der Sache nicht herankommt und auch nicht herangehen will. Sondern es wird gekürzt und noch mal gekürzt, und vor allem setzt sich eine Ideologie durch, die neoliberale, markfetischistische Ideologie, die sich im übrigen auch in der wissenschaftlichen Diskussion längst auf dem Rückzug befindet. Es ist die Ideologie der Amerikanisierung, der Privatisierung der öffentlichen Dienste, aber auch der Privatisierung der Lebensrisiken der Menschen.

Es ist eine interessante Frage, wer der „Nächste“ ist. Man redet in der christlichen Welt von der Nächstenliebe. Die Frage ist auch dem Urheber dieses Satzes gestellt worden. Wer ist also der Nächste? Soll das denn heißen, ich muss die ganze Welt lieben? Weltumfassend gefühlsduselmäßig, also bis nach Feuerland und in den letzten Winkel von Afrika? Heißt das, dass ich George W. Bush lieben muss oder Silvio Berlusconi? Muss ich nun alle Menschen lieben? Mir wird schon schlecht bei dem Gedanken, ich müsste alle Mitglieder meiner Fraktion in Berlin lieben. Das kann ja wohl nicht gemeint sein.

Die Frage der Nächstenliebe, die ja heute nicht mehr Nächstenliebe genannt werden würde, sondern wir nennen sie Solidarität, ist ja beantwortet worden. Der Pharisäer, der Jesus gefragt hat, hat ja zunächst keine Antwort gekriegt, sondern es wurde eine Geschichte erzählt aus dem Wadi el-Kelt, aus der „Blutsteige“, die von Jerusalem nach Jericho hinunterführt, bestens geeignet für Raubüberfälle, Mord und Totschlag. Da wird die Geschichte geschildert von einem Juden, der überfallen wurde und dann in seinem Blute liegen blieb. Da kam der Priester runter und hat ihn liegen lassen, Der Levit ist vorbeigelaufen. Und dann – das ist der Clou der Geschichte - kam der Feind, der Apostat, der Gegner, der Abweichler. Weil die Leute aus Samaria sind vom jüdischem Glauben abgefallen, abgewichen. Es sind ja immer die Apostaten - die sind noch viel schlimmere Leute als der eigentliche Gegner. Und Jesus schildert nun gerade diesen als denjenigen, der ihn medizinisch versorgt und ins nächste Hotel gebracht hat. Und dann hat er den Pharisäer gefragt, wer von den dreien - Priester, Levit oder Mann aus Samaria - war der Nächste für den Überfallenen? Und dann musste der, wahrscheinlich mit Wut im Bauch, antworten: natürlich derjenige, der ihm geholfen hat, der Apostat, der Abweichler, der hat ihm geholfen.

Das heißt also Nächstenliebe: ich, Sie, wir alle miteinander sind verpflichtet, denen zu helfen, die in Not sind. Das kann auch mal der Feind sein. Auf diesem Grundsatz baut jede Gemeinschaft, jede Gesellschaft auf.

Dieser Grundsatz wird aber heute in Frage gestellt. Jetzt heißt es nicht mehr, jeder steht für den ein, der in Not ist. Jetzt heißt es, jeder sorgt für sich selber, am besten durch die Bildung eines Kapitalstocks. Da ist die CDU schon ein bisschen weiter als die SPD. Aber das ist die Marschrichtung, ohne dass die Frage beantwortet wird, was passiert eigentlich, wenn dieser Kapitalstock pleite geht. Enron, der größte Versicherungskonzern der Welt, hat falsch spekuliert, die falschen Aktien gekauft, Bilanzfälschungen im Vorstand, ist pleite gegangen. Millionen von Amerikanern haben ihren Versicherungsschutz verloren. Die Mannheimer bei uns ist auch schon pleite gegangen. Und vor 14 Tagen hat der deutsche Finanzminister mit 5 Milliarden Euro Subventionen vier große Lebensversicherungsgesellschaften vor der Pleite gerettet.

Es ist eine Richtung - Amerikanisierung, Privatisierung -, die letztendlich darauf abzielt, ein ganzes Volk in einem Grundrisiko, z. B. bei Krankheit, auf den Kapitalmarkt zu verfrachten. Das muss schief gehen. Die SPD ist auch drauf und dran und hat es diskutiert. Das fängt damit an, dass man die Zahnbehandlung privatisiert und das Krankengeld und alles Mögliche. Alles Vorschläge, gegen die sich auch Ottmar Schreiner gewehrt hat. Was passiert mit dieser Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose? Es wird Tür und Tor geöffnet nach unten für Lohndumping.

Ich kann mich noch gut erinnern: Bill Clinton hat in seiner letzten Rede seiner Amtszeit voller Stolz erklärt, auch in diesem Jahr, also in seinem letzten Jahr, haben wir 700.000 Arbeitsplätze geschaffen. Da hat sich gleich am anderen Tage einer aus Detroit gemeldet und gesagt, davon habe ich drei. Genau das ist die Situation. Das will man erreichen: Niedrigstlöhne. Der Satz, jeder Job ist besser als keiner, ist ein Nonsenssatz. Sklavenarbeit ist auch Arbeit. Darin haben die Amerikaner sogar Erfahrung. Wir auch. Es kommt darauf an, dass die Arbeit menschenwürdig ist und dass die Menschen davon leben können. Und wenn sie drei Jobs brauchen, damit sie überhaupt leben können, dann arbeiten sie 16 Stunden am Tag. Die Familie geht kaputt. Die Ehen zerbrechen. Die Kinder werden nicht mehr richtig erzogen. In Amerika kommen inzwischen auf 100000 Einwohner 13 Kapitalverbrechen. Bei uns sind es immer noch nur 1,5. Und der amerikanische Erziehungsminister hat neulich erklärt, dass schätzungsweise 25 Prozent der Amerikaner Analphabeten sind. Der neue Gouverneur von San Francisco muss für Gefängnisse mehr Geld ausgeben als für alle anderen Investitionen von der Schule bis zum Straßenbau zusammen genommen.

Selbst der überzeugteste Turbokapitalist kann eigentlich kapieren, dass die Folgeschäden einer Politik, die über Leichen geht, die Menschen ausgrenzt, wesentlich größer sind, als wenn man das macht, wofür er (Ottmar Schreiner) eintritt, was auch meine Meinung ist, dass man nämlich ökonomischen Fortschritt und Humanität auf einen Nenner bringen muss. Wir leben in einer Zeit, wo eine Ideologie sich als modern ausgibt, aber in Wirklichkeit einen Rückfall ins vorletzte Jahrhundert bedeutet. Errungenschaften der Zivilisation werden preisgegeben. Und vor allem erwecken die Leute den Eindruck, als wenn die Leute nicht bis drei zählen könnten, und mit dieser Meinungsbildung haben sie offenbar auch Recht.

Ich bin vorher gefragt worden, ob ich heute auch dagegen gestimmt hätte. Dann habe ich geantwortet, es ist die berühmte Wenn- und so weiter Frage, wenn die Katze ein Pferd wäre, könnte man die Bäume hoch reiten. Nun bin ich nicht mehr im Bundestag und deswegen kann ich die Frage auch nicht richtig beantworten. Aber wahrscheinlich hätte ich dagegen gestimmt, zum Beispiel wegen dieser Zumutbarkeitsgeschichte. Aus den Gründen, die ich genannt habe. Ich hätte aber auch dagegen gestimmt wegen der Anhebung der Grenze beim Kündigungsschutz. Und zwar auch aufgrund unserer Auseinandersetzung, die wir damals geführt haben. Denn das hatte die damalige Regierung ja auch beschlossen, und dann ist es hinterher wieder rückgängig gemacht worden. Damals (sind uns) vom Handwerk (Versprechungen gemacht worden). Ich sehe die Leute noch heute vor mir, (Dieter) Philipp und (Hanns-Eberhard) Schleyer, und vom BDA und BDI damals Hans-Olaf Henkel, einer der größten Sozial-Abbauspezialisten, die wir haben. Der sich aber bekanntlich nach seiner Geburt auch nicht selber gefüttert hat. Sondern eben gleich von Anfang an ein Sozialwesen war, sein musste, um überleben zu können. Aber die haben uns damals gesagt, wenn ihr das macht und die Schwelle anhebt, werden wir 400.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Die Presseerklärung habe ich noch zu Hause. Ich habe sie im Bundestag vorgetragen zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen und zur Abwehr der frechen Angriffe, die ich erdulden musste von Ottmar Schreiner. Ich habe das in einem Buch dargelegt, als Schreiner mir Verrat vorgeworfen hat an der katholischen Soziallehre. Damit habe ich (meine Zustimmung) begründet. So wird es auch heute begründet: durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und durch diese Veränderung der Zumutbarkeitsregeln würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Aber es wird nicht ein einziger Arbeitsplatz geschaffen werden. Ich sage es ihnen voraus.

Und was meine Partei anbelangt: ich war 12 Jahre Generalsekretär, in der Zeit habe ich mehrere erfolgreiche Bundestagswahlen geführt. Da ging es immer darum, ob die CDU 45 Prozent kriegt oder 50 Prozent, und so ist es in der Regel auch ausgegangen. Heute liegt die CDU bei 35 Prozent. Man darf sich von der Demoskopie nicht täuschen lassen. Die Demoskopie ist ein flüchtiges Reh. Sie kann in zwei Monaten auf einer anderen Lichtung auftauchen. Wie will die CDU eine Wahl gewinnen, zum Beispiel mit dem Ergebnis von heute, wo sie durchgesetzt hat, dass die Leute eine geringere Steuersenkung bekommen, und gleichzeitig sie es ermöglicht, dass die Leute leichter und schneller gefeuert werden können? Meinetwegen mögen die Liberalen mit einer solchen Konzeption eine Mehrheit bekommen, aber nicht eine Volkspartei.

Deswegen finde ich, ist das, was Ottmar Schreiner macht, in der Sache richtig. Auch als Person handelt er richtig, und nicht diejenigen, die ihn in dieser Form kritisieren, wie ich es dargestellt habe. Der große Gelehrte Gustav Radbruch hat einmal gesagt: Politik verdirbt nicht den Charakter, sondern erprobt den Charakter. Ottmar Schreiner hat diese Probe glänzend bestanden.